Die Rheinüberquerung im Morgengrauen

1946: Meine Freundin Helga lebte in Mannheim-Sandhofen. Das gehörte zur amerikanisch besetzten Zone. Sie konnte ohne weiteres zu uns in die Pfalz kommen, was sie auch häufig tat. Wer wie wir linksrheinisch lebte, war französisch besetzt, und wir durften umgekehrt diese Zone nicht verlassen! Nach Mannheim zu gelangen, war auf legalem Wege also nicht möglich!

Als mich Helga an einem Tag in Oppau besuchte, hatte sie einen ganz weißen Pullover an. Man muss wissen, dass es keine Kleider, Schuhe, Wolle usw. zu kaufen gab. Selbst wenn man einen Bezugsschein hatte, bekam man oft nichts dafür. Ich kenne ansonsten keinen Neid, aber um diesen Pullover habe ich Helga wirklich beneidet! Sie erzählte mir, dass dies ein Zuckersack sei – aus der Zuckerfabrik in Mannheim, wo Bekannte von ihr arbeiteten!

Über diesen Sack hat Helga gesagt, er wäre ziemlich schwer und musste wie eine Stricksache aufgezogen werden. Dann wurde die Strickmasse ein paar Mal im Kessel gekocht und wurde immer weißer…. Helga sagte, sie würde mir so einen Zuckersack besorgen. Ich freue mich! Abholen müsste ich ihn aber selbst. Und das war ein Problem… Wie komme ich denn nach Sandhofen zu Helga – und zu einem Zuckersack? Die Franzosen ließen uns ja nicht aus ihrer Besatzungszone heraus!
Also, ich musste irgendwie über den Rhein, um zu so einem Sack zu kommen! Durch Mundpropaganda erfuhr ich, wie man von Ludwigshafen doch über den Rhein in die amerikanische Zone nach Mannheim gelangen könnte: Es geht mit einem Boot!

Eines Morgens, 4 Uhr: Es ist stockdunkel, nirgends Licht, und ich laufe am Rhein entlang, kein Mensch weit und breit unterwegs! Da sehe ich eine kleine, dunkle Gestalt, die plötzlich stehen bleibt, auf mich wartet und sagt: „Dich kenn‘ ich doch!“ Also stellten wir ein gemeinsames Kennen fest! Es war Frau Jakobi. Sie hatte längere Zeit bei uns die Zeitung ausgetragen, zuletzt „Die Rheinpfalz“. Wir waren beide froh, dass wir jetzt nicht mehr allein in der Dunkelheit herumliefen. Sie sagte: „Bis zum Kuban, das dauert noch, und dahinter liegt das Boot!“

Nur Eingeborene wissen hier, was der „Kuban“ ist. Der „Kuban“ war bei uns eine Brücke, die nach dem gleichnamigen Brückenkopf in Russland betitelt wurde. Auf beiden Seiten hatte man angefangen zu bauen. Aber das Mittelstück fehlte, weil Sabotage eine Rolle spielte. Wer für schuldig befunden wurde, wurde hingerichtet. Diese nichtfertige Brücke hat die Organisation Todt gebaut. Das war die Bautruppe der Nationalsozialisten.

Endlich waren wir nun am „Kuban“ angekommen und sahen ein paar dunkle Gestalten – und schließlich das Boot, das hinter einem Pfeiler lag! Ich hörte jemanden sagen: „Ich denke, es sind alle da!“ Wir mussten dann zahlen: zweimal Rauchwaren und einen größeren Geldbetrag. Wieviel das war, weiß ich nicht mehr genau. Uns wurde leise gesagt, wie wir uns verhalten müssen. Also gingen wir ins Boot, und dann wurde bis zum nächsten Pfeiler gepaddelt! Dann mussten wir aber warten, denn immer um die gleiche Zeit kam mitten auf dem Rhein ein französisches Motorboot vorbei. Es kontrollierte die Brücke und die Umgebung. Also musste man aufpassen! Erst als es weitergefahren war und sich weit genug entfernt hatte, konnten wir weiterpaddeln! Nun war kein Pfeiler mehr in Sicht – und wir befanden uns auf dem offenen Rhein!

Irgendwann erreichten wir das Ufer auf der Mannheimer Seite, und alle verteilten sich. Man muss bedenken, dass der Rhein eine starke Strömung hat, und ich habe nicht geahnt, dass ich dermaßen weit von meinem Ziel, Sandhofen, entfernt lag! Irgendwann schließlich kam ich bei Helga an – und blieb bei ihr zwei Tage. Die amerikanische Besatzungszone konnte man mit der französischen nicht vergleichen. Es gab zwar bei den Amis wie bei uns Lebensmittelkarten, aber anders als bei uns konnte man hier alles kaufen!

Den Zuckersack habe ich von Helga bekommen, wie sie es versprochen hat. Jetzt stand ich also mit dem schweren Sack an der Rheinbrücke bei den Amerikanern und wollte zurück auf die französische Seite nach Ludwigshafen. Doch so einfach ging das wohl nicht! Ich sah ein großes Zelt und viele Menschen…
Sobald sie aus dem Zelt herauskamen, waren sie weiß „gepudert“! Und so erging es jetzt auch mir! Denn die Amerikaner haben jeden erst einmal desinfiziert! Nach dieser Prozedur konnte ich endlich über die Brücke – und war wieder in Ludwigshafen! Mit vereinten Kräften haben meine Mutter und ich die Wolle aus dem Sack weiß gebracht, und irgendwann hatte ich diesen tollen Pullover, den ich mir so sehnlich gewünscht hatte!

Allerdings war er so stachelig, dass man das Gefühl bekam, er wäre ein Igel. Egal, ich hatte jetzt ein wirklich tolles Kleidungsstück!