Was ich ganz dringend brauchte, waren Schuhe! Aber man konnte im Jahr 1946 nicht wie heute in ein Geschäft gehen und sich welche kaufen! Es gab nämlich keine! Deswegen musste man sich einen Bezugsschein besorgen. Also ging ich jede Woche zum Rathaus. Dort war alles nach A, B, C usw. geordnet. Ich sagte: „Ich komme seit bald zwei Jahren jede Woche, weil ich dringend Schuhe brauche! Sie sagen mir, es gäbe keine Bezugsscheine, deswegen könnten Sie mir nichts geben! Ich sage Ihnen jetzt: Sie haben garantiert Bezugsscheine! Nur brauchen Sie die für Ihre Verwandten und Bekannten!“
Und dann sagte ich noch: „Genau deshalb werde ich ab sofort hier auch nicht mehr auftauchen und um einen Schein betteln! Ich werde nämlich sofort mit dem Bürgermeister Kontakt aufnehmen und ihm die Lage schildern und meine Vermutung gegen Sie wiederholen!“ Im Rathaus waren sie sprachlos.
Was habe ich also getan? Ich habe an unseren Bürgermeister geschrieben und ihm die Situation geschildert, in der ich mich befand. Zugleich habe ich ihm nahegelegt, dass man die Bezugsstellen einmal überprüfen sollte! Meine Mutter sagte dazu: „Du kannst doch dem Bürgermeister nicht so einen Brief schreiben“ – worauf ich entgegnete: „Doch, er soll wissen, dass irgend etwas dort nicht mit rechten Dingen zugeht!“ Und so nahm das Schicksal seinen Lauf…
Innerhalb von einer Woche bekam ich Post… vom Bürgermeister! In einem kurzen Schreiben teilte er mir mit, dass ich an einem bestimmten Tag in seinem Büro vorsprechen soll. Als ich ankam, war er selbst leider nicht anwesend. Seine Sekretärin fragte mich: „Du bist das?!“ Ich war damals 16 Jahre alt. „Komm mal mit!“ Sie führte mich in ein Zimmer, das rundum vom Boden bis zur Decke mit neuen Schuhen vollge-stellt war! „Ich lasse dich mal allein, da kannst du dir ein Paar Schuhe raussuchen!“ Ich dachte, wenn ich das mal erzähle, das glaubt doch kein Mensch!
Also war ich nun mit „Hunderten“ neuen Schuhen allein. Ich musste erst mal meine Schuhgröße herausfinden – und kam auf Größe 38. Das waren alles schöne Schuhe, aber… ich brauchte keine schönen Schuhe – ich brauchte Schuhe, in denen ich gehen konnte, und zwar den ganzen Tag, wenn ich Lebensmittel organisierte bzw. auf dem schwarzen Markt unterwegs war! Die Schuhe waren alle wirklich schön, aber die Absätze waren für mich einfach zu hoch! Ich brauchte Stunden und fand trotzdem nicht die Richtigen. Zwischendurch schaute die Angestellte vorbei und schmunzelte: „Ja, ja, wer die Wahl hat, hat die Qual…“
Nach Stunden habe ich mir ein Paar dunkelblaue Schuhe genommen, die ich nicht anziehen konnte. Ich bedankte mich und musste die Schuhe nicht bezahlen.
In Ludwigshafen gab es damals eine Tauschzentrale für Schuhe! Das bedeutete: stundenlanges Anstehen, bevor man an der Reihe war! Als ich die Schuhe endlich aus der Tasche zog, kam es zu einem kleinen Aufstand. Jeder wollte nämlich wissen, wo es denn diese Schuhe gibt! „Mädche, sag‘ uns, wu gibt’s die Schuh‘?!“ – „Die gibt’s nicht zu kaufen! Wenn ich sage, wo ich die her hab‘, werden Sie es sowieso nicht glauben!“ Man hat mich regelrecht belagert und mir unterstellt, dass ich wohl bevorzugt behandelt würde…
Tja, was war das Ende? Ich tauschte diese schönen neuen Schuhe gegen ein paar gebrauchte. Dafür waren sie bequem – und ich war zufrieden.