Auszug aus „Geschichten der Pfälzer Oma“:
„Das sind doch auch Menschen!“ – Tumult im Max-Bunker
1944 – der Krieg war inzwischen voll bei uns. Wenn man schlafen ging, zog man sich nicht ganz aus. Bei Alarm musste es nämlich schnell gehen. In der Theorie war es so, dass es erst Voralarm gibt, bevor der Vollalarm kommt. Oft entfiel jedoch der Voralarm, und es ging direkt los! Wenn man nicht schnell genug war, um bis zum Bunker zu kommen, lief man in den Luftschutzkeller. Es ist vorgekommen, dass alle schon unterwegs zum Bunker waren – und ich stand noch vor dem Spiegel, um die Rollen von meinen Haaren abzunehmen! Darüber hat sich meine Tante jedes Mal aufgeregt. Es war aber auch leichtsinnig von mir. Die meisten Bombenabwürfe erlebten wir jedenfalls im Keller. Manchmal kam man tagelang aus dem Keller gar nicht mehr heraus, so häufig heulten die Sirenen.
An eine Nacht erinnere ich mich gerade jetzt. Meine Familie war schon im Max-Bunker. Nachts um 3 Uhr schloss ich noch gemütlich das Hoftor zu und ging ebenfalls Richtung Bunker. Und wen treffe ich? Herrn Ott, unseren Nachbarn. Jetzt sahen wir am Himmel die „Christbäume“, also die Leuchtmarkie-rungen, die die feindlichen Flugzeuge für ihre Bombenziele setzten. Also gingen wir etwas schneller. Und es war bitterkalt! Da sagte Herr Ott: „Warme Füß’ hab‘ ich keine – aber kalte Händ’!“ Ich habe gelacht und gelacht, und ich konnte nicht mehr aufhören. Weil ich so lachte, musste Herr Ott schließlich auch lachen. Ich muss auch jetzt schon wieder lachen, wenn ich daran zurückdenke. Bis wir endlich ankamen, da ist mir allerdings das Lachen vergangen…
Der Bunker war nur zur Hälfte fertig gebaut, stabil, mit drei Meter dicken Wänden, die Abschlussdecke fehlte, und links und rechts gab es noch keine Treppen, stattdessen befanden sich dort Rampen. Der Bunker wurde von der Organisation Todt errichtet, die für die Nationalsozialisten überall in Deutschland gebaut hat. Die Arbeiten am Oppauer Bunker wurden jedoch sabotiert, und diejenigen, die man dafür verantwortlich machte, wurden hingerichtet…
Jedenfalls wollte ich gerade in den Bunker hineingehen. Die Rampen waren voll von Menschen, die sich in das Gebäude drückten. Es ging ziemlich langsam voran. Und es waren fast nur Frauen – Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine. Also habe ich mich den Frauen angeschlossen, und wir drängten vorwärts, die Treppen hinauf. Da stand auf einmal der Herr König in SA-Uniform – und er schubste die Frauen gegen die Wand, und was er brüllte, das habe ich nicht verstanden. Ich sah noch, wie er eine Schwangere gegen die Wand schleuderte. Ich bekam eine Riesenwut und schrie: „Lassen Sie die Frauen in Ruhe! Das sind schließlich auch Menschen!“
Da wurde der Herr König auf einmal ganz ruhig und zeigte mit dem Finger auf mich: „Dich zeige ich da unten an!“
Da unten… ich wusste sofort, was er meinte! Unten, sobald man in den Bunker hinein kam, befand sich gleich rechts eine Tür, die immer geschlossen war. Dort war die Zentrale. Man sagte, dass sich darin die „Bonzen“ aufhielten. Es wird mir kein Mensch glauben, aber jetzt hatte ich tatsächlich Angst! Ich drehte mich also um und lief den Weg zurück, den ich gerade gekommen war. Ich dachte mir: Bevor Herr König mich anzeigen kann, zeige ich ihn an, und das mache ich sofort! Das war nicht so gut überlegt – überlegt habe ich erst später, wie so oft in meinem Leben. Es war doch so: Egal, welche Uniform jemand trug, ob braun oder schwarz oder grau – das war alles derselbe Verein! Alles überzeugte Nationalsozialisten! Ich stand vor der Tür, und das Schicksal konnte seinen Lauf nehmen. Zwei Schläge von mir gegen die stabile Tür, und wer öffnete sie? Es war Herr Theobald, mein Lehrer!
Er hatte die braune Uniform an, und ich sah in dem Raum auch sonst nur braune Uniformen – und in der Luft lag Zigarettenrauch. Wir waren beide überrascht, dass wir uns hier trafen. Aber ich war froh, dass Herr Theobald an der Tür war. „Na, zu wem willst du denn?“ – „Ich will nur zu Ihnen, um Ihnen etwas zu erzählen… das kann ich nur Ihnen sagen…“ Wenn ich jetzt nach über siebzig Jahren zurückdenke, war das damals sehr gewagt. Ich war zwar noch ein Kind, aber über die politische Lage wusste man in diesem Alter schon Bescheid. Und man wusste auch, dass Theobald ein gefürchteter Mann in unserer gesamten Gegend war. Aber ich hatte keine Angst vor ihm. Wieso das so war, weiß ich nicht. Er war wie eine Vertrauensperson für mich, und ich war ja einer seiner Lieblinge in der Klasse.
„Erzähle mal, was passiert ist!“ Man muss jetzt bedenken, dass ich gerade dabei war, einen Parteigenossen bei ihm anzuschwärzen. „Also, das war so…“ – und ich erzählte die Geschichte, bis Herr König ins Spiel kam. „Also der Herr König stand großartig neben der breiten Treppe, und ich sah schon von weitem, wie er die Frauen herumgestoßen hat und dabei ‚schneller, schneller’ rief. Viele der ausländischen Frauen haben geweint. Irgendwann stand ich vor dem König und habe zu ihm gesagt: ‚Das ist ja allerhand, wie Sie die Frauen behandeln, das sind doch auch Menschen!’“ In dem Moment fiel mir kochend heiß ein, dass gerade Herr Theobald es war, der uns Schülern beigebracht hatte, Russen seien keine Menschen, sondern Untermenschen! Nun konnte ich aber nicht mehr zurück, und ich redete eben so, wie ich reden wollte. Theobald, der groß war, beugte sich zu mir herunter und hörte sich alles an.
„Es ist doch so“, sagte ich, und dabei sah ich ihm in die Augen, „es sind doch Menschen wie wir auch. Das stimmt doch, deshalb habe ich gegen Ihre Tür geklopft, in der Hoffnung, dass ich mit Ihnen sprechen kann. So darf sich der König nicht verhalten!“ Wenn jetzt jemand glaubt, dass ich mich in dieser Situation in meiner Haut wohlfühlte, der irrt sich! Doch Herr Theobald war sehr freundlich, er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: „So war das richtig, dass du zu mir gekommen bist. Und das mit dem König, da mache dir mal keine Gedanken, das kläre ich! Und in Zukunft, egal, was es ist, du kommst zu mir, und du erzählst mir alles! Ja?“ – „Ja, das mache ich! Heil Hitler!“
Fünfzehn Jahre später: Inzwischen habe ich mir ein Café in Oppau gebaut. Wie immer ist das Café West gut besucht. Da tritt ein Mann herein… Er sieht völlig unscheinbar aus, nichtssagend und nicht sonderlich gepflegt… Als ich ihn mir näher betrachte, da trifft mich fast der Schlag: Es ist… Herr König! Ich brauche nicht lange zu überlegen. Das einzige, was ich rufe, ist: „Raus!“