März 1945. Zwei Tage lang flatterten Flugblätter auf alle Straßen und Plätze in Oppau. Sie aufzuheben und zu lesen, war streng verboten. Das wurde über Lautsprecher bekannt-gegeben. Von den Nationalsozialisten wiederum wurden Flugblätter in einer anderen Farbe ausgegeben. Sie sollten darauf hinweisen, dass die Propaganda des „Feindes“ nicht gelesen werden darf. Gehalten haben wir uns daran aber nicht!
Auf den Flugblättern der Amerikaner stand: Die Bevölkerung soll die Wohngebiete in Ludwigshafen, Friesenheim, Mundenheim, Oggersheim, Oppau, usw. verlassen, weil alles dem Erdboden gleichgemacht wird! Weil wir den Amerikanern mehr geglaubt haben als unserer eigenen Regierung, packten meine Mutter und ich unsere Siebensachen zusammen, nahmen den vierrädrigen Wagen, setzten meinen damals neunjährigen Bruder hinein und zogen auf der Landstraße Richtung Frankenthal. Die Straßen waren total verstopft. Es hieß: Rette sich, wer kann!
Unser Ziel war Eppstein, dieses Dorf ist der Heimatort meiner Mutter. Tante Luise hat uns aufgenommen, und wir hofften, dass wir schon bald wieder nach Oppau zurückkehren könnten. Vater war ja noch in der „Ruine“ unseres Hauses, als wir loszogen. Alle alten Männer mussten sich zum Volkssturm melden. Vater sagte, dass er da nicht mitmacht – und hat sich versteckt! Wo, das weiß ich nicht, und so etwas konnte „ins Auge gehen“, wenn es aufflog!
Nachdem wir zwei Tage bei Luise in Eppstein waren, erfuhren wir durch Mundpropaganda, dass unsere schöne Rheinbrücke gerade gesprengt wurde und dass es trotz der Ankündigung der Amerikaner nun doch keine weiteren Bombardements auf Ludwigshafen mehr gab. Also drehten wir unseren Wagen herum, setzten meinen Bruder wieder hinein und gingen auf Feldwegen zurück in Richtung Oppau. Die Strecke, die wir entlang liefen, kannten wir gut – aber jetzt sah vieles ganz anders aus. Da lagen zwei Panzer und Handgranaten, Militärkleidung, Decken und auch Sachen, die wir nicht kannten. Es war bei Strafe verboten, etwas mitzunehmen! Und so kamen wir wieder in die Nähe von Oppau.
Von weitem sahen wir die ersten Häuser, und auf einmal sagte meine Mutter: „Da sind ja Soldaten!“ Als wir näher kamen, stellte ich fest: „Das sind aber keine Deutschen!“ Wir blieben in einem großen Abstand zu ihnen stehen – schließlich herrschte immer noch Krieg, und unsere „Feinde“ hatten wir ja noch nie persönlich gesehen! Also sagte ich: „Es sind Amerikaner oder Engländer. Was machen wir jetzt?!“ Umdrehen ging nicht mehr!
Es waren ganz junge Amerikaner, insgesamt sechs Mann. Zwei saßen auf der Fensterbrüstung, und die anderen lümmelten mit Zigaretten im Mund herum, und jeder trug ein Maschinengewehr bei sich. Langsam schlenderten sie uns entgegen – und fingen zu reden an! Ich habe kein Wort verstanden! Meine Mutter sagte zu mir: „Rede doch mal was, du hast doch Englisch gelernt!“ Das war typisch meine Mutter. Die Frau hat wirklich geglaubt, ich könnte Englisch, nur weil wir einmal in der Woche in Englisch unterrichtet wurden – und zwar von einem Engländer, einem gewissen Mister Chic!
Aber als ich die Amerikaner so reden hörte, kam ich schnell zu dem Schluss, dass das, was uns Mr. Chic beigebracht hat, alles andere war, nur kein Englisch! Sonst hätte ich doch irgend etwas verstanden! Für mich war Mr. Chic ab sofort ein Spion oder Agent, der uns absichtlich alles falsch beigebracht hat!
Also blieb mir nichts anderes übrig, als so Englisch zu reden, wie ich es eben gelernt hatte! Heute weiß ich, dass es reines „Oxford-Englisch“ war, das Mr. Chic uns beibrachte. Ich holte tief Luft und begann wie folgt: „We are living in the next street!“ Weiter kam ich erst mal nicht. Das war eine Sensation – die zwei „Fenstersitzer“ sprangen herunter, und nun standen sie alle vor mir und haben gelacht, gelacht, gelacht! Ich hätte gerne mitgelacht, und ich lache wirklich gern – aber ich hatte in dem Moment eine Stinkwut auf Mr. Chic! Jetzt redeten alle durcheinander. Von meiner Mutter hörte man nichts. Mein Bruder bekam ein Kaugummi geschenkt und machte sich in seinem Wagen so klein wie möglich.
Einer der Amerikaner war der Anführer und hat mit Handzeichen angedeutet, dass er jetzt mit mir sprechen will. Die anderen sollten mal ruhig sein. Und plötzlich konnte ich Etliches verstehen, was er sagte! Er fragte, wo ich dieses Englisch gelernt hätte. Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich das bei Mr. Chic gelernt hätte, „in the school“. Jetzt nahm das Lachen überhaupt kein Ende mehr. Sie fanden meine Aussprache wohl wirklich höchst amüsant. Es dauerte nicht lange, und dann lachten wir alle!
Wenn diese Jungs überlebt haben, dann können sie ihren Nachkommen erzählen, dass sie mitten im Krieg von Lachanfällen geschüttelt wurden!