Ich sehe zu, wie die Regentropfen an der Fensterscheibe ein Wettrennen veranstalten. Zuerst sind sie klein und langsam, dann schließen sie sich zusammen und fließen gemeinsam immer schneller werdend dem Ziel entgegen, dem Ende der Fensterscheibe.
Genauso verläuft ein Menschenleben. Anfangs ist man klein und alleine unterwegs, dann findet man einen netten Menschen, schließt sich mit ihm zusammen und geht gemeinsam dem Ende entgegen. Mein Ende wird wohl auch bald da sein. Es ist mein letzter Urlaub an der Nordsee. Ich bin schon alt, habe viele schöne Jahre erlebt, viel gelacht und geweint und mit meiner Frau drei wunderschöne Kinder in die Welt gesetzt.
Mathilda ist letztes Jahr gestorben und seid dem ist mein Leben langweilig geworden. Es ist als wenn ich diesen Regentropfen teilen würde, er würde wieder klein werden und langsamer die Scheibe runterrutschen.
Mit meinem Leben hatte ich abgeschlossen, wollte nur noch darauf warten, bis ich das Zeichen bekomme meine Augen für immer schließen zu können. Ich war sauer. Sauer auf meine Kinder, die mich einfach in den Urlaub schickten, sauer auf Gott, weil er mir meine allerbeste Freundin und Frau genommen hatte und sauer auf Mathilda, weil sie so plötzlich gestorben war. Ich hatte nicht damit gerechnet. Natürlich war sie schon sehr gebrechlich und krank, aber ich dachte sie würde ewig leben, oder ich würde vor ihr sterben. Ich war einfach nicht bereit.
Und dann war sie weg. Und sie kommt nie mehr zurück. Ich fühlte mich ohnmächtig, redete kaum noch ein Wort und weigerte mich etwas anderes als Brot und Kaffee zu mir zu nehmen.
Meine Kinder schickten mich in den Urlaub, ich sollte mich erholen. Ich hatte keine Kraft mich mit ihnen anzulegen und willigte ein. Als ich meine Sachen gepackt und in das Auto meines ältesten Sohnes Michael gestiegen war, kam plötzlich meine Enkelin Leni angerannt und verkündete freudestrahlend, sie würde mitfahren. Sie könnte sich nicht vorstellen ihren lieben Opi allein in den Urlaub fahren zu lassen. Ihren Koffer hatte sie auch gepackt und dann saß sie auch schon auf dem Hintersitz des Wagens und redete und redete und redete. Mir graute es vor dem Urlaub. Natürlich waren Michael und Susanne begeistert von der tollen Idee Leni mit mir in den Urlaub zu schicken und so fuhren wir los.
Es hat aufgehört zu regnen. Die ersten Sonnenstrahlen sind schon durchgebrochen und ich stehe langsam auf, um mir noch einen Kaffee einzugießen.
Heute Mittag sind wir aus dem Urlaub zurückgekommen. Meine Koffer stehen noch unausgepackt im Flur. Ich werde sie nicht auspacken. Vielleicht später. Ich öffne die Tür zur Veranda und setze mich in meinen Schaukelstuhl.
Und dann kommen wieder die Erinnerungen an den Urlaub.
Leni war gar nicht so aufgedreht und nervig wie daheim. Sie war ein richtig aufmerksames Mädchen, kochte mit mir zusammen ausgefallene Gerichte, war bei meinen morgendlichen und abendlichen Spaziergängen immer an meiner Seite und erzählte mir viele lustige Geschichten.
Den Rest des Tages verbrachten wir am Kamin, sie schürfte in der Asche herum und erzählte von ihren Freundinnen. Auch von ihrer großen Liebe erzählte sie mir und von ihren Zukunftsträumen. Ich saß einfach da und hörte ihr zu und merkte wie ich immer ruhiger wurde. Auch wenn ich sehr wenig redete, wurde es ihr nicht langweilig mich zu unterhalten. Sie brauchte jemanden der ihr zuhört und ich brauchte jemanden, der mich unterhält und so waren wir beide glücklich.
Wenn ich jetzt an die zwei Wochen denke, die wir miteinander verbracht haben, fühle ich mich erfüllt. Leni hat mir so viel Aufmerksamkeit geschenkt, dass ich mich richtig wohl bei ihr gefühlt habe. Sie ähnelt Mathilda wirklich sehr.
Ich atme die frische Nachtluft ein. Der Kaffee ist inzwischen kalt geworden und die Sterne lächeln mich an. Ich habe keine Angst mehr vor dem Allein sein oder vor der Zukunft.
Ich denke wieder an die Regentropfen und weiß nun wie es sich anfühlt, wenn alle Regentropfen am unteren Rand der Scheibe aufeinander treffen. Langsam schließe ich die Augen und atme die frische Luft ein.